Leseprobe 3 aus dem Buch " Unerwartetes" von Wilhelm R. Vogel
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Briefe an Eleonore


Geliebte Eleonore,


heute früh, als die Sonne zum Fenster hereinschien und mich mit ihrem Licht und ihrer Wärme weckte, habe ich mit geschlossenen Augen an dich gedacht. Du hattest dir immer ein Schlafzimmer mit einem Ostfenster gewünscht. Damals, als du noch bei mir warst. Auch von einem Haus am Waldrand hast du immer gesprochen. Vor meinem Arbeitszimmer, in dem ich jetzt am Fenster sitze und dir diesen Brief schreibe, kann ich die ausladenden Äste einer großen Fichte ergreifen, die wie ein Vorbote des Waldes, der gleich hinter dem Gartenzaun beginnt, in unserem Garten steht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mir fehlst. Wie gerne würde ich mit dir Reiten gehen, oder Tennis spielen oder endlich wie-der einmal einen Berg besteigen. Oder vielleicht sogar eine weite Reise unternehmen. Weißt du, ohne dich macht das alles keine Freude. Wenn ich wenigstens ein-mal eine Antwort von dir bekäme. Du hast doch meine Briefe erhalten?


Seufzend lehnte sich Walter in den Sessel zurück und sah aus dem Fenster. Wenn Eleonore nur da wäre! So wie jedes Mal, wenn er ihr schrieb, und das tat er immer als Erstes nach dem Frühstück, versuchte er sich zu erinnern, seit wann sie nicht mehr bei ihm war. Aber er konnte auch diesmal den Zeitpunkt nicht nennen, zu dem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Es war, als wäre sie nicht einfach gegangen, sondern als wäre sie nach und nach entschwunden. So, als wäre ihre Anwesenheit stets ein wenig geringer geworden, bis auch dieses Wenige irgendwann nicht mehr da war.
Das Knarren der Stiegen riss ihn aus seinen Gedanken. Eine alte Frau trat ein und stellte ihm eine Tasse Tee auf den Schreibtisch. Walter sah ihr nach, wie sie zur Tür schlurfte. Die Alte war über achtzig und sie bewegte sich noch schwerfälliger als sonst. Wahrscheinlich hatte sie es wieder in den Hüftgelenken. Aber obwohl ihr das Treppensteigen erkennbar schwerfiel, brachte sie ihm jeden Tag seinen Vormittagstee herauf in das Mansardenzimmer, wo er las oder seine Briefe an Eleonore schrieb. Er empfand eine tiefe Dankbarkeit für die alte Frau. Sie muss auf alle Fälle hierbleiben, entschied er, auch wenn Eleonore zurückkommen sollte.


Er konnte das Essen riechen, noch bevor sie ihn rief. Schnell unterschrieb er den Brief und berührte das Papier, nach einem vorsichtigen Blick zur Tür, zart mit seinen Lippen. Dann verklebte er das Kuvert. An Eleonore schrieb er auf den Umschlag. Den Rest würde die alte Frau erledigen.


Er ging die Stiegen hinunter, immer ein Bein neben das andere stellend. Früher hatte er oft drei Stiegen auf einmal genommen. Ja früher, da war ja auch Eleonore noch da gewesen. Unten angekommen gab er der alten Frau den Brief.
Die Alte hatte den kleinen Holztisch auf der Terrasse gedeckt. Walter mochte diesen Platz, von dem aus man den kleinen Garten gut überblicken konnte. Und er mochte das hellgrüne Tischtuch und das schlichte, weiße Geschirr.
Bevor die alte Frau das Essen brachte, versuchte er die Holzblättchen so unterzulegen, dass der Tisch nicht mehr wackelte. Das gelang ihm zwar, aber er wusste, das würde nicht lange halten. Auch als Eleonore noch da gewesen war, hatte der Tisch immer gewackelt.


Es gab Speckknödel und Sauerkraut. Die hatte Eleonore auch oft gekocht – damals. Aber die der alten Frau schmeckten fast ebenso gut.


Nach dem Essen rechte er das Laub zusammen, bevor er sich in den Liegestuhl setzte. Die Sonne hatte an diesem Herbsttag schon viel von ihrer Kraft verloren und verbreitete eine milde Wärme.


Er mochte wohl eine Stunde geschlafen haben, als das Läuten der Türklingel zu ihm in den Garten drang und ihn weckte. Das würde Manfred sein. Manfred, der Arzt, mit dem er befreundet war und der gelegentlich vorbeikam, um einen Kaffee zu trinken und auf seine Gesundheit zu schauen, wie er es nannte.


“Na, wie geht es euch beiden?“ Manfred war gut gelaunt.


Vorsichtig setzte sich Walter in den abgenutzten Fauteuil des Wohnzimmers und lehnte seinen Stock an die Lehne.
„Im Prinzip gut, aber Eleonore geht mir immer mehr ab.“
Die Alte, die hinter ihm stand, strich ihm zärtlich über den Kopf. „Walter, mein Liebster. Eleonore, deine Frau, das bin doch ich!“ Sie warf dem Arzt einen bedeutsamen Blick zu.


„Ich weiß“, antwortete Walter, und es fiel ihm schwer, seinen Ärger zu unterdrücken. „Du heißt auch Eleonore, du wohnst da und du kümmerst dich ganz lieb um mich. Aber ich suche die andere Eleonore, die junge, die schlanke, die mit den langen blonden Haaren; die Eleonore, die ich damals geheiratet habe – das habe ich dir schon so oft gesagt!“ Verzweifelt sah er den Arzt an. „Manfred, du verstehst mich doch! Kannst du es ihr erklären?“


Wenig später war Walter in seinem Sessel eingeschlafen. Ein glückliches Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Er träumt von dir“, sagte der Arzt.


Eleonore nickte und begann, das Kaffeegeschirr wegzuräumen.